Lob der Vergänglichkeit

Zu den Stillleben von Gisela Bührmann

Aufsatz von Prof. Dr. Heinz Spielmann zur Austellung im Kloster Cismar "Gisela Bührmann Stillleben aus vier Jahrzehnten"

„Unter den deutschen Malern, denen heute das Stillleben noch etwas bedeutet und denen das Fortleben dieser für die europäische Malerei so bedeutsamen Bildgattung zu danken ist, steht heute Gisela Bührmann an einer ersten Stelle. Bisher ist es nur ein kleiner Kreis, der von diesem Rang der Künstlerin überzeugt ist; zu ihnen zählen unter den Künstlern Horst Janssen, Paul Wunderlich und Edgar Augustin, unter den Museumsleuten Günter Busch, unter den Sammlern Carl Vogel und Rainer Martens. Gisela Bührmann wurde mit dem Edwin Scharff-Preis ausgezeichnet und zum Mitglied der Freien Akademie der Künste in Hamburg gewählt; unterrichtete lange als Professorin an der Hamburger Fachhochschule. Sie fand also durchaus Anerkennung, aber sie nimmt im öffentlichen Bewußtsein nicht den Platz ein, der ihr zusteht. Nicht, daß ihre Bilder und Blätter umstritten wären – es gab lediglich wenige Ausstellungen, die ein Urteil über das malerische, zeichnerische und druckgraphische Werk Gisela Bührmanns ermöglichten – in einem Vierteljahrhundert seit 1972 gerade sechs Präsentationen, darunter lediglich zwei größere und nur vier durch einen Katalog begleitet. Sie wurde 1972 von der Bremer Kunsthalle, 1973 on der Münchner Galerie Günter Franke, 1983 im Hamburger Kunstverein, 1989 von der Lübecker Overbeck-Gesellschaft, 1976 und 1996 in der Hamburger Galerie von Michael Hauptmann gezeigt.

 

Daß eine so kontemplative, von aller Betriebsamkeit sich fern haltende, die Öffentlichkeit meidende Künstlerin von der gegenwärtigen, auf das Laute und das Interessante des Tages gerichteten Szene kaum wahrgenommen wird, erscheint als allzu verständlich, und wenn es anders wäre, würde es sie vermutlich mehr irritieren als bestätigen. Aber waren es nicht oft diejenigen, die von Tages-Auguren nicht wahrgenommen wurden und die den Augenblick überdauerten?

 

Wer, wenn nicht die Museen, hat die Aufgabe, das zu Unrecht nicht ausreichend beachtete in seiner Qualität bewußt zu machen?

 

Das Schleswig-Holsteinische Landesmuseum sammelt deshalb seit mehr als einem Jahrzehnt Gisela Bührmanns Arbeiten, darin mehrfach von Freunden und der Künstlerin selbst unterstützt. Neben acht Gemälden und drei bildhaften Zeichnungen bewahrt es das gesamte, 156 Blatt umfassende, ausschließlich Radierungen enthaltene druckgraphische Werk – einen die bisherige Lebensleistung seit 1958 repräsentierenden Querschnitt. Er bildet eine Grundlage der hier vor Augen gestellten Auswahl, ergänzt durch Bestände der Sammlung Rainer Martens, durch Gemälde aus weiterem Privatbesitz sowie Bilder und Zeichnungen aus dem Atelier der Künstlerin.

 

Nach Herkunft und Lebensraum, Selbstverständnis und Haltung ist Gisela Bührmann eng mit dem deutschen Norden verbunden. In ihren 1998 niedergeschriebenen, in der vorliegenden Publikation erstmals veröffentlichten autobiographischen Notizen hat sie sachlich und ohne Schnörkel ihre Einbindung n die Region und deren Traditionen beschrieben: Ihre Kindheit in dem bis 1937 noch zu Schleswig-Holstein gehörenden Stelling; die während dieser frühen Zeit für sie prägenden Anregungen durch die völkerkundlichen Objekte im Alonaer und Stellinger Haus ihres Großvaters; ihre Jugend in dem von Karl Schneider, dem früheren Hamburger Architekten des „Neuen Bauens“, errichteten Haus ihrer Eltern; die Ablehnung des braunen Terrors durch ihren Vater; die Nöte von Kriegsende und Nachkriegszeit; das Studium bei Willem Grimm; den Verlust der ihr am nächsten stehenden Menschen; nach schweren Krisen die Entdeckung der abgelegenen Landschaft im Südosten Schleswig-Holsteins und auf der dänischen Insel Samsø. Schon diese wenigen Daten und Fakten zeigen, wie viel Verbindung zwischen dem Lebenswerk Gisela Bührmanns und Holstein bestehen. Kloster Cismar erscheint deshalb für die Vorstellung dieses Lebenswerks als ein natürlicher Ort.

 

Das Œuvre beginnt, von Exerzitien der Studienzeit abgesehen mit Zeichnungen. Sie selbst läßt nur diejenigen Blätter gelten, die seit 1961 entstanden. In diesem Jahr war sie 36 Jahre alt.

 

Wer sich über die davor liegenden Jahre informieren will, wissen möchte, was sie zuvor beschäftigte, muß sich a die Radierungen halten. Sie geben zu erkennen, daß Stillleben, ihre sie seit 1961/62 mehr und mehr, schließlich allein beschäftigende Thematik, für sie zunächst keine Rolle spielten, um so mehr die Architektur und die Stadtlandschaft, Mauern und Häuserfronten, Ausblicke auf Alltägliches in einer Zeit, in der die Kriegszerstörungen und der Aufbau immer wieder Lücken in heute geschlossenen Baufronten rissen, in der Bunker wie erratische, unzugängliche Riesenblöcke aufragten. So tektonisch diese Blätter auch strukturiert sind, sie bleiben nie starr. Im Duktus bewegt, in der Modulation von Strichlagen malerisch erscheinend, verraten sie ein lebendiges, die Form nicht als akademische Ordnung verstehendes Sehen. Diese Freiheit und Leichtigkeit sollte bis heute das Merkmal von Gisela Bührmanns Kunst bleiben.

 

Sicher wurde diese Sensibilität von Sehen und Zeichnen Gisela Bührmanns durch Willem Grimm gefördert, aber sie war bereits damals ein originäres Merkmal des Talents der jungen Künstlerin. Sie teilte es mit den gleichartigen Freunden Horst Janssen, Paul Wunderlich, Reinhard Drenkhahn. Im Rückblick von heute her gesehen rücken insbesondere die druckgraphischen Blätter dieser vier näher zusammen; sie sind bei aller sich durchsetzenden Individualität gekennzeichnet als das Verbindende einer Aufbruchphase, die sich um gerade vorherrschende Tendenzen, etwa die informelle Malerei, kaum kümmerte, der die gesehene Wirklichkeit als wichtiger galt denn die frei assoziative Paraphrasierung der Welt.

 

Den Architektur- und Stadtbildern folgten Gisela Bührmanns offene Landschaften mit dem flachen Land, den Küsten, Knicks und Wolken Schleswig Holsteins, mit der Elbe, mit Häfen und Parks. Sie hätte durchaus zu einer vorzüglichen Landschaftsmalerin werden können, oder, wie einigen Proben verraten, auch zu einer Figurenmalerin, wenn nicht ein für sie einschneidendes Erlebnis sie als Mensch und Künstlerin von Grund auf verändert hätte – der Tod ihres Lebensgefährten Reinhard Drenkhahn, der freiwillig aus dem Leben schied. Der Schock, dessen volle Auswirkungen sie erst Jahre danach spürte, stürzte sie, wie sie in ihren Notizen bekennt, für längere Zeit in eine nur langsam überwindbare psychische und physische Krise. Aus ihr rettete sie sich dadurch, daß sie aus der sichtbaren Welt für sich das gewann, was die Realität mit ihren Träumen verband die Gegenstände der Erinnerung, die übrig gebliebenem, greifbaren Relikte der Vergänglichkeit. Sie zeichnete, was da blieb, wenn jemand ging; Jacken und Handschuhe, die er zurückließ, Tücher, die ihre Funktion verloren und deren fließende Form dem Gleiten von Erinnerungen und Gedanken folgt. Daß die Bilder, auf denen diese Gegenstände seit 1961 immer wieder auftauchen, die Vergänglichkeit deuten, zu Zeichen der Vanitas werden, belegen die Totenschädel und die toten Hasen, die Gerippe von Vögeln und Insekten, die jetzt lange Zeit und häufig dargestellt werden.

 

Stillleben wurden während des Barocks zu Deutungen der Vergangenheit, zu Hinweisen auf die Vanitas des menschlichen Lebens. In dieser Tradition stehen auch die Stillleben Gisela Bührmanns. Ihre Bildgewaltbenötigt jedoch kaum die Anlehnung an die alte Ikonographie. Sie findet durch das bloße Hinsehen, durch die kontemplative Konzentrierung auf einfachste Dinge ihre Metaphern für Tod und Leben, abseits aller literarisch-intellektuellen Anspielungen. Im Laufe der nächsten Jahrzehnte kamen zu den genannten Bildgegenständen weitere hinzu:

 – Das Brot, das sie nicht, wie die Maler des Barock, als aufzehrbar, also vergänglich, versteht, sondern als Hinweis auf das Leben und sein körperliches Fortbestehen.

 – Helme und Trommeln als Attribute des Aufbruchs, als Bereitschaft, dem Tod nicht allein das Feld zu überlassen.

 – Steine und Fragmente von Bauteilen als Merkmale des Überlebens in einfachsten Erscheinungsformen.

 – Tote Äste als Überbleibsel, die das organische Leben für eine Zeit überdauern und der Erinnerung Auftrieb geben.

 

Im Momento Mori der Stillleben von Gisela Bührmann steckt also immer auch Lebensrealität, noch offenkundiger in den Aktzeichnungen, die um 1964, und den Bildnissen, die 1976-1978 entstanden, während des langen Lebensabschnitts den sie mit Arzt und Sammler von Zeugnissen der Natur Dr. Martin Sudek teilte. Gelegentlich malte und zeichnete sie sich in dieser Zeit auch selbst, ruhig und voll derselben Melancholie, die auch aus ihren Stillleben spricht. Horst Janssen schrieb zu ihren Arbeiten 1973, knapp und voller Einfühlungsvermögen: „Es sind Mitteilungen leiser Gedanken, vielleicht zaghafter Gedanken, die ihre Deutlichkeit verlieren, wenn man sich auch nur um ein Weniges ausdehnt und lauter denkt. Hätte einer noch Wohlgefallen an Maß und Angemessenen – hier hätte er die Kabinettstücke der Gisela Bührmann. Und es käme ihm bei aufmerksamer Betrachtung der Blätter womöglich due Erkenntnis: Melancholie kann durchaus die Wurzel einer gemessenen Heiterkeit sein – einer Heiterkeit weg von der Straße, an der Rückseite eines Mietshauses, in einem Zimmer an einem Arbeitstisch.“ Und wenn nicht Heiterkeit, so möchte man hinzufügen, dann doch Gelassenheit gegenüber den Reaktivitäten des Tages.

 

Mit der Hinwendung zum Stillleben begann nicht nur im Bereich des Gehalts, sondern auch in der Qualität der Bildstruktur eine neue Phase von Gisela Bührmanns Werk, zunächst in der Zeichnung, einige Jahre später aber auch in der Malerei. So malerisch ihre Zeichnungen immer schon angelegt waren – nun gewannen sie eine neue Dichte und Freiheit,  gewannen sie an Sensibilität und Valeurs. Selbst Bleistift- und Kohlezeichnungen erschienen wie in farbigen Grau-Tönen. Diese Nuancierung nutzte sie von 1964 an auch für die Malerei. Wann anfangs die Zeichnung vom malerischen partizipierte, dann später die Bilder von der Zeichnung. ZU Grautönen, Weiß und Schwarz kamen sonore, erdhafte Braun-Sandfarben, über die sich ein schwarzes Netz feiner, wie mit der Feder gezeichneter Lienen und Schraffuren legte. Das schwarze Lieneament gab den Gegenständen der ersten Stillleben ihre Körperhaftigkeit. An ihre Stelle trat zunehmend ein breiterer Pinselduktus, und gleichzeitig wuchs die Bedeutung der Farbe, wuchs das Format.

 

Die Zeichnerin war zur Malerin geworden. Ihre Bilder bestimmt jetzt, seit der Mitte der achtziger Jahre, an Stelle der Modulation von Hell-Dunkel scharfe Grüntöne, aufleuchtende Rot und Orange, gelegentlich auch ein Fleck von Blau, so nuancenreich wie vorher das Grau. Gisela Bührmann steigerte die Farbigkeit durch den Kontrast zum Grau-Schwarz der Körper-Schatten. Grau, Schwarz und Weiß waren von jetzt an aber nicht Faktoren des Hell-Dunkel und des Raumes, sondern gleichfalls Farben.

 

Neben den neuen Gemälden entstanden nach wie vor Zeichnungen, jedoch als eine von ihren deutlich unterschiedene Gattung. Aus der Farbigkeit der Bilder und ebenso aus den dargestellten Objekten spricht ein verändertes Lebensgefühl. Totenschädel und Tiergerippe, Tücher und zurückgelassene Kleidungsstücke treten seltener vor Augen. Die Objekte, denen sich die Künstlerin von den achtziger Jahren an zuwandte, reflektierten nicht so sehr den Tod wie die Dauer, das Überdauern. Bereits seit 1968 hatte sie zusammen mit Martin Sudek auf der dänischen Insel Samsø und später im Holsteinischen diesen Gehalt einfangende Objekte gefunden und aufbewahrt. Martin Sudek ordnete sie zu Hause in Gruppen, wie man es früher mit Naturalien einer Kunstkammer tat; in einer vom Landesmuseum erworbenen Folge von Photographien ist diese in ihrem materiellen Wert unprätentiöse Sammlung dokumentiert. Dieses Arsenal vollen Fundstücke hätte Gisela Bührmann als Material für die unterschiedlichsten Stillleben dienen können, aber sie malte nur wenig davon, bevorzugte Steine und Anderes, in der Auflösung nicht oder kaum Zerstörbares, das, was nach Zerstörung noch übrig blieb.

 

In den achtziger Jahren hielten sich Gisela Bührmann und Martin Sudek häufig im holsteinischen Goldensee auf. Dort stand ein klassizistisches, in der Schinkel-Tradition errichtetes Herrenhaus. Niemand pflegte es, es verfiel und wurde eines Tages bei einer Feuerwehr-Übung eingeäschert. Zu den übrig gebliebenen Teilen gehörten Teile der Balustrade; sie sind auf einer Reihe von Stillleben aus den Jahren 1968-1988 zu sehen, als Hinweis auf Vergänglichkeit und Dauer zugleich.

 

Eines dieser Bilder trägt den Titel „Trümmer in Bewegung“. Die Fragmente scheinen darauf zu gleiten. Doch teilt sich dem Betrachter nur auf diesem Stillleben der Eindruck von Bewegung und Bewegtheit mit, sondern in verhaltenerer Form auf allen anderen ebenso. Immer wecken die Kompositionen Gisela Bührmanns die Vorstellung, sie könnten sich im nächsten Moment ändern, ihre Statik erweist sich als ambivalent. Ein oberflächlicher Beobachter könnte glauben, sie seine zufällig arrangiert. Wer genau hinsieht, wird jedoch bemerken, wie subtil die Balance der Körper die Ruhe der vorgestellten Gegenstände erfaßt ist. Das scheinbar Zufällige  und sich beiläufig Ausnehmende der Objekt-Gruppierung behält den Impetus von Spontanität, in der großen Form wie im Detail. Nie tritt starre ein, die Ordnung bleibt stets lebendig – nicht ‚Nature Morte‘ – tote Natur – Sondern Lebensqualität, Teil des Lebensraums, ein Stück Wirklichkeit. So häufig Gisela Bührmann such auch in der offenen Natur aufhielt, dargestellt hat sie seit dreieinhalb Jahrzehnten nur noch Objekte in Innenräumen. Sehr wenige Maler, die sich heute noch der Wirklichkeit verpflichtet sehen, haben sich so entschieden von der Außenwelt abgewandt, bewegen sich ausschließlich in einer nach außer abgeschlossenen Welt. Was es in der Natur gibt, holt die Natur, sowie es für sie relevant ist, in ihr Atelier. Dort führt sie einen gemalten oder gezeichneten Dialog mit den von ihr für sich ausgewählten Zeugnissen der Realität draußen. Die einfachen, eine begrenzte Bedeutung besitzenden Gegenstände werden für sie auf diese Weise zu intentionalen Objekten, zu Bewußtseinstatsachen, die sie mit individuell bestimmtem Gehalt füllt. Diese Verwandlung des ursprünglich Unbedeutenden in Dinge von Bedeutung stellt einen Abstraktionsprozeß dar, der aus dem Zufälligen den Typus, aus Ungeordnetem Ordnung, aus Abfall Sinn gewinnt. Der Gehalt, den die alten Stillleben als normierte, einer verbindlichen Ikonographie folgende und deshalb jedem verständliche Sinngebung kannten, wird von Gisela Bührmann individuell neu gefunden. Sie greift keine Tradition auf, sondern fügt ihr aus eigenem Erlebnis etwas höchst Persönliches, Eigenständiges hinzu – ein Tod und Trauer, Schmerz und Melancholie zur Quintessenz des Lebens machendes Lob der Vergänglichkeit."

 


Die Abbildung des Textes Lob der Vergänglichkeit von Prof. Dr. Spielmann erfolgt mit freundlicher Zustimmung des Autors und des Schleswig-Holsteinischen Landesmuseums, denen wir an dieser Stelle noch einmal für Ihre Unterstützung danken.